„Das ist ja eine ganz andere Ideologie!“

Wie lange darf an überholten Meinungen festgehalten werden, bis es als Kunstfehler gilt?

Vor kurzem ist mir aufgefallen, dass einige meiner Patienten von relativ weit herkommen, aber nur sehr wenige aus der unmittelbaren Umgebung. Da ich seit Ende letzten Jahres meine Ernährungsberatung habe zertifizieren lassen (was ein ziemlicher zeitlicher und auch finanzieller Aufwand ist!) und daher nun auch Ernährungstherapie mit Krankenkassenzuschuss machen kann, habe ich das zum Anlass genommen, mich und meine Praxis mal bei einigen Ärzten in Steglitz-Zehlendorf vorzustellen.

Ich bin froh, nach dem ersten dieser Termine meinem Impuls widerstanden zu haben, das nie wieder zu tun.

Was war passiert?

Der Arzt guckte auf mein Kärtchen und meinte: „Heilpraktikerin – mhm! … Das ist ja eine ganz andere Ideologie! Also ich halte von Homöopathie ja nicht so viel.“ Ich dachte mir: „Ja, nicht jeder Heilpraktiker macht Homöopathie – es ist ja auch nicht jeder Hund ein Dackel!“ Laut antworte ich: „Dazu kann ich nichts sagen, ich habe Homöopathie nicht gelernt – ich mache Ernährungsberatung und Traumatherapie.“ – „Aha! Und was beraten Sie da so?“ – „Ich habe mich spezialisiert auf Patienten mit chronisch-entzündlichen Erkrankungen und Depressionen. Es kommt auch immer mal jemand mit Morbus Hashimoto zu mir“ (wo das chronisch-entzündliche Geschehen also schon zu einer Autoimmunreaktion geführt hat), „oder Patienten, die einfach nur ein wenig abnehmen möchten.“

„Depressionen? Naja, da geht’s ja eher um die Botenstoffe im Gehirn.“ – Ja, natürlich. Und was bringt die aus dem Gleichgewicht? (Einladung zum Weiterdenken!) Denke ich. Ich sage es nicht. Er fährt fort: „Und Hashimoto? Das ist doch eine Autoimmunerkrankung! Da greifen körpereigene Antikörper das Schilddrüsengewebe an, das wird zerstört und dann fehlen die Hormone. Da nimmt man die Hormone ersatzweise als Tablette und gut isses! Was hat das mit Ernährung zu tun?“

Tausende Hashimoto-Patienten würden ihm hier etwas anderes erzählen, die brav täglich ihre Schilddrüsenhormone einnehmen und trotzdem noch mit der Müdigkeit, der Gewichtszunahme, den Verdauungsproblemen, dem Schwitzen und Frieren, dem struppigen Haar und der trockenen Haut zu tun haben. Hashimoto ist mehr als eine kaputte Schilddrüse und Hashimoto-Therapie ist mehr als Hormon-Ersatz!

Ich musste mich wirklich zusammenreißen, dass mir nicht der Mund offen stehen blieb. Natürlich stimmt das mit der Autoimmunerkrankung. Nur: Stellt man sich nicht die Frage, gerade wenn man den Wissenshintergrund eines Medizinstudiums hat, warum ein Körper, der evolutionär auf Selbsterhaltung und Homöostase ausgelegt ist, plötzlich auf die Idee kommt, sich selbst zu zerstören? Ich habe mehrfach die Erfahrung gemacht, dass Hashimoto, gerade wenn er noch nicht allzu weit fortgeschritten war, durchaus gestoppt werden kann. Nicht in jedem Fall, aber doch zu mehr als 50%. Eine angegriffene Schilddrüse kann sich darüber hinaus sogar manchmal regenerieren.

Aber es ging schon weiter: „Naja, und Sie brauchen ja nicht denken, dass ich meinen Patienten mit erhöhtem Cholesterinspiegel nicht auch sage, sie sollen weniger Fleisch essen. Aber ganz ehrlich? Das funktioniert so gut wie nie! Wenn ich dann Statine verschreibe, ist wenigstens ein bißchen mehr zu erreichen.“

(Zum Thema Cholesterin habe ich schon früher gebloggt, die Artikel findest du unter folgenden Links:

Erhöhte Cholesterinwerte – körpereigene Intelligenz?

Think twice – wenn Cholesterin wirklich runter muss

Ich bin innerlich schon ein wenig am verzweifeln und denke: „Ja, klar. Wenn ich beim Autofahren die Straße nicht mehr sehe, dann hilft’s auch nicht, wenn ich anhalte und eine halbe Stunde lang hingebungsvoll die Heckscheibe putze!“ Mehr vom Falschen ist halt nicht das Richtige.

Ich bin nun wild entschlossen, meine Berufsehre zu verteidigen

„Sehen Sie“, sage ich, „Ökotrophologen lernen eben andere Dinge als Ärzte! Wir kennen sicher viele Details über Knochen, Sehnen und Muskulatur nicht so wie Ärzte, wir wissen nicht, wie man jemanden operiert und wir sind auch keine Pharmakologen. Aber wir lernen sehr viel über Zusammenhänge des Stoffwechsels, Körperbau, Hormone und das Immunsystem, über Biochemie und Bakterien. Und wir lernen auch, dass es nicht damit getan ist, beim Essen etwas einzusparen, wovon zuviel im Blut ist. Wenn jemand zu mir kommt und seinen erhöhten Cholesterinspiegel senken will, dann erzähle ich ihm nicht, dass er weniger Fleisch essen soll, weil ich weiß, dass das ohnehin nicht funktioniert. Die Leber baut Cholesterin selbst auf und gleicht das, was man über die Ernährung eingespart hat, sofort wieder aus, wenn sie es für sinnvoll hält. Ich frage mich eher: „Warum sammelt sich das Cholesterin bei demjenigen so an? Warum sagt der Körper der Leber, dass soviel davon gebraucht wird? Und warum kann das Cholesterin nicht in all das umgewandelt werden, was der Körper normalerweise so aus Cholesterin macht?“

Er guckte mich zweifelnd an, versichert mir, sich mein Kärtchen mal aufzubewahren und verabschiedet mich dann höflich.

Als ich draußen im Dunkeln auf der Straße stehe, merke ich, wie heiß mein Kopf ist

Ich merke, dass ich richtig verärgert bin. Wie viele Patienten werden entmutigt, weil ihre Bemühungen fehlschlagen, ohne dass sie irgendetwas dafür können? Sie haben nichts falsch gemacht. Sie haben nur längst überholte Ratschläge bekommen, sie brav und motiviert befolgt und dann festgestellt, dass sich nichts ändert. Dass die Blutfette beim nächsten Mal noch genauso hoch oder höher sind. Sie putzen sozusagen die falsche Scheibe und wundern sich dann, dass sie nichts sehen. Und aus diesem scheinbaren Mangel an Alternativen geben sie auf, begnügen sich damit, Tabletten zu nehmen, die sie über die Jahre in eine Demenz schlittern lassen. Und das Ganze nennt man dann Schicksal! Man sollte es Fahrlässigkeit nennen!

Vieles, was man in der Wissenschaft einmal für richtig gehalten hat, hat man später als falsch erkannt. Nur so entwickelt sich das Wissen, die Gesellschaft, letztlich die ganze Welt. Niemand kann immer in allen Punkten auf dem aktuellen Stand sein. Aber wenn jemand die ernährungsmedizinische Forschung der letzten 15 Jahre einfach nicht zur Kenntnis genommen hat, seinen Patienten von der Forschung längst überholte Ansichten vermittelt, muss man das nicht als „Kunstfehler“ bezeichnen?

Ich bin gerade durch meine Ausbildung zur Heilpraktikerin sehr dafür sensibilisiert, meine Grenzen zu erkennen. Das ist der Dreh- und Angelpunkt unserer Arbeit: Erkennen, wann möglicherweise Gefahr droht, wo ich nicht weiterhelfen kann, wo eine schulmedizinische Therapie keinen Aufschub duldet.

Warum hat ein Arzt, der nicht Ernährungsmediziner ist, das Selbstbewusstsein, zu glauben, er könne mal eben zwischen Tür und Angel die Arbeit einer anderen Berufsgruppe noch mit erledigen?

Ökotrophologen sind nicht „besser“ als Ärzte. Ärzte sind aber auch nicht „besser“ als Ökotrophologen!

Wir lernen verschiedene Dinge, wir sehen aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf unsere Patienten. Und wenn wir das Bestmögliche für unsere Patienten erreichen wollen, dann brauchen wir einander.

Ich gehe an diesem Abend ziemlich entmutigt nach Hause, schlafe drüber und wage am nächsten Tag einen neuen Versuch bei einer Ärztin. Glücklicherweise. Es wird ein Gespräch, das von gegenseitigem Respekt und Interesse getragen ist und ein Gewinn für beide Seiten. Ich meine, unsere Patienten haben es verdient!