Vegan – das ist doch verrückt!

Nein, ich bin nicht „unter die Veganer“ gegangen. Aber ich habe – natürlich völlig ohne Hintergedanken, smile! – meinem Freund einen veganen Kochworkshop zu Weihnachten geschenkt.

Wie konnte ich ihm das antun?

Wir hatten vereinbart, einander „Zeit“ zu schenken, in irgendeiner Form – und ich wollte ihn neugierig machen. Vor zwei Jahren war ich Gast bei der VegMed, einem medizinischen Fachkongress über pflanzenbasierte Ernährung, der alle zwei Jahre an der Freien Universität stattfindet. Bald hatte ich – als Fleischesser – das Gefühl,  absolut in der Minderheit zu sein. Umso mehr haben mich nicht nur die Vorträge der führenden Ernährungswissenschaftler der Welt beeindruckt, sondern auch die anderen Gäste. Man kam leicht ins Gespräch, keiner versuchte mich zu „bekehren“, und nach einer Weile fiel mir auf, dass ich noch nie auf einer Veranstaltung mit so vielen fröhlichen, gesund aussehenden und normalgewichtigen Menschen war. Die, unter denen ich mich da bewegte, repräsentierten definitiv nicht den Durchschnitt der Bevölkerung, wo jeder zweite klagt, dass er gern abnehmen würde.

Mein Intermezzo als „Pudding-Vegetarier“

Ok – das mußte ich erstmal mit meiner persönlichen Realität abgleichen. Meine letzte Veggie-Erfahrung lag 18 Jahre zurück. Während meiner Ausbildung hatte ich wenig Geld zur Verfügung, und beschloss, mich fleischlos zu ernähren, weil es billiger war. Und weil Billigfleisch vom Discounter damals schon keine Option für mich war.

Allerdings hatte ich damals von Ernährung wenig bis gar keine Ahnung. Meine tägliche Versorgung lief nach dem Motto: „Miracoli machen ist auch kochen!“ Ich war der klassische „Pudding-Vegetarier“. Mein Wohlbefinden war im besten Fall Durchschnitt, mit reichlich Durchhängern und ich lechzte allwöchentlich nach dem Besuch bei Omi, die mich zuverlässig zum Sonntagsbraten erwartete.

Mit Ende der Ausbildung und etwas aufgebessertem Budget kehrte ich also leichten Herzens zurück zur normalen bayerischen Hausmannskost und war damit für lange Zeit zufrieden. Was man gelegentlich mal an Fotos und Reportagen aus Mastbetrieben sah, konnte ich damals noch ganz gut verdrängen – vor allem beim Anblick eines Schnitzels.

An der Uni begann sich mein Bild sehr, sehr langsam zu wandeln.

Nun mag es sein, dass einem in den Studiengängen Umweltmanagement und Ökotrophologie mehr Veganer über den Weg laufen, als dem Durchschnittsdeutschen. Die Gespräche in der Mensa waren mitunter aufschlussreicher als die Vorlesung…

Diese Zeit war nicht von flammenden Plädoyers für Vegetarismus oder gar Veganismus geprägt. „Das ist doch verrückt – was soll man denn da noch essen!?“ bekam ich regelmäßig zu hören, wenn ich äußerte, dass ich Veganismus zumindest irgendwie interessant fand. Schnell hatte sich auch die Erkenntnis durchgesetzt, dass es nicht die vegane Ernährung ist, die am ehesten zu Nährstoffmängeln führt.

Heute, zehn Jahre danach, wird Veganismus wieder als Baustein einer Umstimmungstherapie bei allen möglichen Zivilisationskrankheiten empfohlen.

Damals war es vor allem der wunderbare Professor Leitzmann, der dankenswerterweise – obgleich emeritiert – noch die eine oder andere Gastvorlesung bei uns hielt und der seit Jahrzehnten Vegetarier ist. Er blieb mir in Erinnerung mit dem Spruch: „Merken Sie sich, es gibt nur Heilpflanzen, keine Heiltiere. Außer dem Heilbutt!“

Aber das ist eine andere Geschichte. Meine Neugier war jedenfalls endlich wieder geweckt. Einerseits…

ABER: Die ganze Palette an Vorurteilen…

Trotzdem konnte ich nicht so recht über meinen Schatten springen und hatte meinen veganen Kommilitonen innerlich schnell eine ganze Reihe von Etiketten auf die Stirn geklebt: „unterernährt“, „moralisch überlegen“, „radikal“, „bißchen arg alternativ“, „links“, „spaßfrei!“

Keine sehr netten Etiketten, ich geb’s ja zu. Mittlerweile weiß ich natürlich, dass man nur manchmal nicht den Spiegel erträgt, den einem andere vorhalten… Etiketten sind also von gestern.

… und der Realitätscheck

Unterernährt? Fehlernährt? Anders ernährt!

Allesesser sind eigentlich Nicht-Allesesser

Tatsache ist: Veggies haben meistens mehr Ernährungswissen als Allesesser und haben im Durchschnitt – auch wenn’s paradox klingt – ein größeres Spektrum an Lebensmitteln, die sie regelmäßig verzehren. Obwohl sie so Vieles kategorisch ausschließen! Dieses Ausschließen führt fast regelmäßig zu bestimmten Nährstoffmängeln. Aber: Veganer wissen in der Regel genau, welche Mikronährstoffe sie im Blick behalten und ggf. in Pillenform einwerfen müssen, nämlich die, die vor allem in tierischen Produkten enthalten sind: Eisen, Vitamin-B-Komplex, v.a. B12, Vitamin D.

Überraschenderweise – und allen Aussagen der DGE zum Trotz, sind Nährstoffmängel bei Allesessern viel häufiger. Allerdings sind sie bei ihnen diffuser verteilt und weniger vorhersehbar als bei Veganern. Weil Allesesser eben Nicht-Allesesser sind. Sie essen zwar Fleisch, Fisch und Milchprodukte, aber im Normalfall sehr viel weniger Gemüse (zwangsläufig), weniger Sorten, weniger Nüsse, weniger Hülsenfrüchte und verzichten so auf ein breites Spektrum an sekundären Pflanzenstoffen und Vitaminquellen. Zudem werden ihre Mängel seltener erkannt, weil die offiziellen Ernährungsempfehlungen inzwischen längst als völlig überholt in der Kritik stehen. Die empfohlenen Spiegel verhindern zwar die klassischen Krankheiten, die bei extremen Mängeln auftreten, wie Skorbut, Rachitis, Pellagra, Beriberi und perniziöse Anämie, reichen aber für einen reibungslosen Stoffwechsel oft bei weitem nicht aus.

Die Studien, die gezeigt haben, wie hoch der Prozentsatz mit Vitamin-D-Mangel an der Gesamtbevölkerung ist, haben mich schon im dritten Semester aus den Latschen gehauen! 80% der Menschen fehlt im Winter, wenn man wenig an der Sonne ist, Vitamin D, teilweise sind die Spiegel sogar gefährlich niedrig. Das ist vor allem für Senioren ein Problem – und die kümmern sich darum erfahrungsgemäß am wenigsten.

Empfinden sich Veganer als moralisch überlegen? Manche vielleicht. Die große Mehrheit der Veganer, die ich persönlich kenne, tut das allerdings nicht. Hand aufs Herz: Empfindet man sich vielleicht vielmehr selbst moralisch UNTERlegen, weil man spürt, dass man wider besseres Wissen handelt? Vielleicht ist das der Moment, wo die Mauer der Verdrängung, die wir alle brauchen, wenn wir Tiere essen, Risse bekommen hat. Welche Schlüsse wir daraus ziehen, liegt bei uns.

Und alternativ? Tja, das kommt auf den Standpunkt an. Eine Sache wird nicht dadurch richtig, nur weil sie von vielen als normal erachtet wird. Trotzdem sind Kategorien wie „richtig“ oder „falsch“ in einem freien Land und im Rahmen der Legalität eine Frage des persönlichen Standpunkts. Alternativ ist man also, wenn man für sich persönlich etwas als falsch bewertet, was die Mehrheit für normal oder richtig erachtet. Sind Veganer also im Hinblick auf ihr Essen „alternativ“? Ja! Ist das also ein Problem? Nein!

Spaßfrei? Im Gegenteil! Weil Veganer eben NICHT unter- und fehlernährt durch die Gegend schleichen. Weil sie oft ein hohes Level an Bewusstsein haben und im Einklang mit ihren Überzeugungen leben. Das führt eher zu einem höheren Maß an innerem Frieden als zu einem Mangel an Freude.