Was „innere Kinder“ für uns tun

Das innere Kind ist gerade sehr in Mode. Jeder scheint eines zu haben und was auch immer für ein Problem gelöst werden soll – es liegt ganz bestimmt am „inneren Kind“. Dann darf man es imaginieren, es anlächeln, umarmen, vielleicht ein Geschenk austauschen und es wieder liebevoll seiner Wege gehen lassen. Solange wir aber nicht ganz erfassen, was es mit dem „inneren Kind“ eigentlich auf sich hat, kann es passieren, dass wir da einen Teil unseres Selbst wieder gehen lassen, über dessen Potential und Bedeutung für uns wir uns überhaupt noch nicht im Klaren sind. Wie traurig für dieses Kind, wenn wir es unwissend wieder in die Wüste schicken, weil wir noch nicht verstanden haben, mit welch großer Liebe und Selbstaufopferung es uns schon durch Jahre unseres Lebens begleitet.

Wo kommt das „innere Kind“ eigentlich her?
Gehen wir dorthin, wo es entsteht: in die Kindheit. Wir kommen zur Welt und sind darauf angewiesen, dass unsere vielfältigen Bedürfnisse erfüllt werden, von Menschen um uns herum, die imstande sind, sie zu lesen. Wir wollen essen, trinken, Körperkontakt, beruhigt werden, wenn wir die Ruhe verloren haben oder wenn eines unserer Bedürfnisse falsch gelesen wurde und wir uns deshalb nicht wohl fühlen. Wir wollen sicher schlafen können und unbeschwert spielen und wir haben am Anfang unseres Lebens keinen Einfluss auf die Erfüllung dieser Bedürfnisse. Wir können höchstens schreien und quengeln, um unseren Unmut kundzutun oder zufrieden blubbern, um zu zeigen, dass wir uns wohlfühlen. Wir sind völlig hilflos und zugleich der Mittelpunkt unserer Welt. Wir entwickeln Vertrauen in andere und in das Leben in dem Maß, in dem unsere Bedürfnisse in dieser ersten Zeit wahrgenommen und gestillt werden. Dann glauben wir, dass die Welt gut ist, das Leben schön und dass wir uns darauf verlassen können, gehört und gefühlt zu werden. Wir entwickeln immer mehr das Zutrauen, unsere Bedürfnisse Stück für Stück in die eigenen Hände zu nehmen und wachsen auf mit Gefühlen von Selbstwirksamkeit, Selbstliebe, Lebensfreude und Lebenskraft.

Unerfüllte Bedürfnisse und Dissoziation
Bleiben diese Bedürfnisse unerfüllt, haben alles Schreien und Quengeln nicht geholfen, dann müssen wir uns damit arrangieren, und zwar so, dass es uns möglichst wenig Schmerzen bereitet. Ein sinnvoller Schutzmechanismus unserer Seele, der später zum Hindernis wird: Wir bauen uns Glaubenssätze, nach denen wir unbewusst agieren und die dazu führen, dass wir uns umso mehr selbst im Weg stehen, je mehr die Anforderungen des Lebens an uns wachsen. Es sind Schlussfolgerungen aus den unerfüllten Bedürfnissen, mit denen wir uns selbst die Welt erklären, sodass sie für uns einen Sinn ergibt. So kann der schmerzlich vermisste Kontakt zu den Eltern oder deren fehlende Einstimmung auf uns zu Glaubenssätzen führen wie: „Ich bin es nicht wert, geliebt zu werden.“ – „Was ich brauche, interessiert keinen – also ist es auch nicht wichtig.“ – „Ich kann mich auf niemanden verlassen!“
Weil wir uns mit diesen Schlussfolgerungen zwangsläufig Seelenschmerz zufügen, können wir unbewusst dazu tendieren, sie umzumünzen in etwas, das sich kraftvoller anfühlt; beginnen unsere Bedürfnisse zu verleugnen und unsere Gefühle von Angst und Hilflosigkeit, Traurigkeit und Enttäuschung hinter einer Mauer aus Wut, Trotz und Stolz zu verstecken: „Ich brauche niemanden, (der mich liebt).“ – „Ich bin sowieso am liebsten alleine.“ – „Ich bin stolz auf meine Unabhängigkeit.“ – „Ich verlasse mich am besten nur auf mich selbst.“ Sobald wir diese Prämissen verinnerlicht und unseren Charakter drumherum gebaut haben, ist die Abspaltung von den schmerzhaften Gefühlen vollzogen – sie sind „dissoziiert“, kein spürbarer Teil mehr von uns.

Vor der Mauer: das scheinbar ganz normale Leben
Wir selbst bleiben vor dieser Mauer und agieren in unserem Leben anscheinend ganz normal. Hinter der Mauer, nicht sichtbar, bleiben die dissoziierten emotionalen Anteile, die später als „Innenkinder“ in Erscheinung treten. Ja genau, wir müssen eigentlich in der Mehrzahl sprechen, denn ihre Schar ist umso größer, je mehr traumatische Situationen wir erlebt haben, je öfter es uns passiert ist, dass wir eine not-wendige Handlung nicht ausführen konnten, weil wir noch zu klein waren oder einfach, weil wir daran gehindert wurden. Die schmerzhaften Gefühle, weil wir diese Not aushalten mussten, sie nicht „wenden“ konnten, tragen unsere Innenkinder. Sie halten sie von uns fern und schützen uns damit vor dem Schmerz, der uns lähmen würde. Überleben vor Wohlbefinden – der Mechanismus der Dissoziation sichert unsere alltägliche Funktionstüchtigkeit, sorgt dafür, dass wir unseren Verantwortlichkeiten nachkommen können, auch um den Preis, dass wir unsere Bedürfnisse gar nicht mehr spüren, um dem Schmerz der Nichterfüllung zu entgehen. Mit den Gefühlen fehlt aber auch unser innerer Kompass, der „Zug“ zu etwas hin, der Antrieb, die Kraft, die uns im Leben nach vorne bringt. Stattdessen schützen wir die Mauer, denn die ist ständig unter Druck von der anderen Seite. Das spielt sich unbewusst ab und wird als unerklärlicher Dauerstress spürbar. Menschen mit komplexen Traumata können hoch leistungsfähig sein, doch es kostet sie viel mehr Kraft, unter solchen Bedingungen ihre Ziele zu erreichen.

Signale von hinter der Mauer: Wie Innenkinder auf sich aufmerksam machen
Wie stark und mutig, so klein zu sein und einen so harten Job zu übernehmen! Diese viel zu starken „Kleinen“ in uns haben mehr verdient als einen flüchtigen Besuch und ein Lächeln von uns. Sie verdienen unsere bedingungslose Liebe, egal wie kratzbürstig sie sich zeigen. Wer sich auf die Reise macht, seine inneren Kinder kennenzulernen, lässt sich auf einen längeren Heilungsprozess ein. Sie wollen einen Ort, an dem sie endlich Kind sein dürfen im Vertrauen, dass für sie gesorgt ist. Sie wollen gefunden werden und ihre schwere Bürde abgeben dürfen an jemanden, der sie wirklich tragen kann. So finden sie Mittel und Wege, sich bemerkbar zu machen. Stellen wir uns vor, dass sie rufen und von hinten gegen die Dissoziationsmauer treten, während wir vorn immense Kraft aufwenden müssen, damit sie sie nicht durchbrechen. Dabei ist traumatisierten Menschen oft nicht einmal klar, warum sie so häufig erschöpft sind. In unserem Alltag können sich diese Signale der inneren Kinder ganz unterschiedlich äußern: Wir gehen vielleicht Triggern auf den Leim, sehen innere Bilder, die mit heftigen, scheinbar grundlosen Gefühlsaufwallungen verbunden sein können, leiden unter körperlichen Symptomen, die sich niemand erklären kann.

Was passiert, wenn wir die Last der Innenkinder übernehmen?
Wenn wir uns trauen, die Mauer Stück für Stück bröckeln zu lassen, indem wir unseren Symptomen auf den Grund gehen, wird ein Innenkind nach dem anderen hervorkommen. In der ressourcenorientierten Traumatherapie bauen wir eine Beziehung zu ihnen auf und sie zueinander, und mit der Zeit werden sie sich zu einem inneren Team formieren. Derweil wächst unsere Stärke, sodass wir ihnen das Schwere nach und nach abnehmen können. Im regelmäßigen Kontakt mit ihnen passiert nun in der Therapie häufig etwas sehr Schönes: Sie wachsen und entwickeln sich. Man selbst spürt plötzlich Bedürfnisse, die man lange nicht hatte – ihre Bedürfnisse – und merkt, dass man sie im Hier und Jetzt manchmal ganz einfach erfüllen kann. Während wir sie in einem Prozess von Wochen und Monaten liebevoll begleiten, immer besser verstehen, was sie brauchen, werden sie groß und integrieren sich manchmal ganz spontan. Integration ist nichts weniger, als dass ein Persönlichkeitsanteil, der zu uns gehört, wieder zu uns zurückgefunden hat, weil wir uns für ihn geöffnet haben. Im Alltag können wir das als eine größere emotionale Bandbreite, gleichzeitig aber auch als mehr Standfestigkeit wahrnehmen. Dies ist kein Widerspruch, denn das Wieder-Fühlen-Lernen bedeutet nicht, dass uns die Gefühle aus der Bahn werfen. Indem wir uns vorsichtig an traumatische Erlebnisse herantasten und das Ungefühlte von damals zu Ende fühlen, lösen wir Trigger auf und eine neue, emotionale Stabilität kann wachsen.
Denn dies ist eine Implikation von Entwicklungstraumata: weil sie oft so früh in unserer Kindheit entstehen, kennen wir kein Vorher-Nachher. Normalität ist für uns das, was wir kennen. Wenn wir es nie anders erlebt haben, dann können auch emotionale Instabilität, Freudlosigkeit, depressive Episoden und Erschöpfung „normal“ für uns sein. Dass „gut“ auch bedeuten kann, ein besseres Gefühl zu haben, eine heiterere Grundmelodie unseres Lebens, als sie sie bis dahin kannten, liegt für viele früh Traumatisierte außerhalb ihrer Vorstellungswelt.
Wenn die Mauer nicht mehr notwendig ist, setzt das gleich in zweierlei Hinsicht Energie frei. Die, die wir in ihre Aufrechterhaltung investiert haben, und die, welche die Innenkinder für das Tragen der traumatischen Erinnerung aufwenden mussten. In dem Maße, wie wir sie wieder Teil von uns werden lassen, kommen wir in unsere Kraft und können in Fülle und mit Freude unseren Weg gehen.