Diagnose Depression – Hilfe oder Hindernis?

Fragt man Menschen mit Depressionen, was sie in Bezug auf die Krankheit besonders belastet, sind das häufig „dumme Sprüche“ von Angehörigen oder Bekannten. Das passiert oft, wenn das Umfeld nicht weiß, wie es mit dem veränderten Wesen der sonst so vertrauten Person oder auch nur mit der Diagnose selbst umgehen soll und vor lauter Hilflosigkeit gutgemeinte Ratschläge gibt, die den Betroffenen schnell wieder in Ordnung bringen sollen – leider oft weniger motiviert durch den Wunsch, ihm wirklich weiterzuhelfen, sondern eher, um das unangenehme Thema schnell erledigt zu haben. In diese Kategorie fallen Bemerkungen wie:

  • „Du musst einfach mal öfter raus in die Sonne gehen, du sitzt den ganzen Tag hier in der Bude, da würde ich auch depressiv werden!“
  • „Deine Ernährung ist ja auch wirklich grottig – du brauchst mehr Vitamine!“
  • „Es ist doch normal, dass man mal schlecht drauf ist – das geht mir auch so, da ist man doch nicht gleich krank!“
  • Jetzt hab dich nicht so! Lach doch mal!
  • „Du nimmst dir einfach alles viel zu sehr zu Herzen, da musst du drüberstehen.“
  • „Du bist dir selbst nicht gut. Du stehst dir einfach selbst im Weg.“
  • „Wird das mit dir eigentlich nochmal was oder bleibt das jetzt immer so?“
  • „Manchmal muss man sich einfach am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen!“
  • „Du musst dich halt auch mal ein bißchen zusammenreißen!“

Es mag im Einzelfall richtig sein, dass jemand mehr Sonne oder gesünderes Essen oder eine andere innere Haltung zu bestimmten Dingen brauchen könnte. In dieser Form allerdings sind diese Ratschläge, wie das Wort schon sagt: Schläge.

Fragt man dann danach, was sich jemand in einer Depression stattdessen wünschen würde, so ist das Unterstützung, ohne be- oder gar verurteilt zu werden. Ein Wunsch wird ganz besonders häufig genannt:

„Ich wünsche mir, dass die Depression endlich als Krankheit ernst genommen wird.“

Depression ist viel mehr als einfach nur traurig sein. Im Gegenteil: Mancher mit Depressionen würde es vermutlich als Erleichterung empfinden, mal richtig traurig zu sein. Stattdessen ist oft das Erleben von Gefühlen deutlich eingeschränkt, damit natürlich auch der Antrieb, denn wenn Dinge, die eigentlich Freude machen, kein Gefühl der Freude mehr in uns auslösen, verlieren wir auch das Interesse daran, sie zu tun. Dazu können jedoch noch eine Vielzahl weiterer Symptome auftreten, zum Beispiel:

  • Veränderung des Appetits
  • Veränderungen des Schlafs, Gedankenkreisen
  • Müdigkeit, Erschöpfung, Niedergeschlagenheit
  • Gefühle von Scham, Schuld oder Wertlosigkeit
  • Konzentrationsprobleme
  • Rastlosigkeit, innere Unruhe
  • Verlangsamung, in der Bewegung und auch im Denken, sogar Pseudodemenz
  • Gedrückte Stimmung, Verzweiflung, Suizidgedanken
  • Chronische, auch wandernde Schmerzen, die sich körperlich nicht erklären lassen
  • Kurzatmigkeit und Kloßgefühl im Hals

Die Diagnose Depression kann eine riesige Erleichterung sein

Jemand, der gesund ist, und das Zusammenspiel obiger Symptome nicht selbst erlebt hat, kann sich vielleicht trotzdem vorstellen, dass der Geist davon völlig eingenommen wird, was dazu führt, dass ein Mensch mit Depressionen zwar weiß, was er eigentlich zu tun hätte, bzw. „heute eigentlich noch alles machen wollte“, aber einfach nicht die Energie dafür aufbringen kann.

Bis jemand dann endlich den Weg zum Arzt findet, können Wochen und Monate mit diesen Symptomen vergangen sein, immer begleitet von einem sehr unfreundlichen inneren Dialog: „Ich müßte mich ja einfach nur mal aufraffen, z.B. endlich mal aufzuräumen“ – „Oh Gott, die Klausur kommt immer näher und ich habe heute wieder nicht gelernt!“ – „Das war jetzt schon der dritte Tag mit Fertigpizza … morgen muss ich unbedingt einkaufen und was Richtiges kochen.“ – „Ich sollte ja eigentlich zu der Party heute Abend, wenn ich wieder nicht gehe, lädt mich bald keiner mehr ein … aber ich kann einfach nicht. Und so wie ich drauf bin, bin ich ja eine Zumutung für die anderen. Ich sollte anrufen, dass ich nicht komme … in einer halben Stunde gehe ich … ach, es ist nicht so schlimm, wenn ich erst später gehe … nein, doch nicht, ich schaffe es heute einfach nicht.“ – „Das Telefon klingelt … unbekannt … ich glaub‘ ich geh gar nicht ran. Ist bestimmt nichts Gutes und ich bin eh schon so fertig.“ Das sind typische Kämpfe, wie sie während einer Depression in deinem Inneren stattfinden können.

Gegensatz zwischen Leistungswillen und Leistungsfähigkeit = Scham und Schuldgefühle

Der Wunsch, „normal gesund“ zu sein (oder wenigstens zu erscheinen) oder zumindest „zu funktionieren“ steht im krassen Gegensatz zur momentan eingeschränkten Leistungsfähigkeit. Oft schafft man es noch, für eine Weile die Kraft für das jeweils Dringendste aufzubringen, doch irgendwann siegt die Erschöpfung. Daraus erwachsen fast zwangsläufig massive Schuldgefühle, denn wer über längere Zeit am Abend nie geschafft hat, was er am Morgen auf dem Plan hatte, wer seine Freundschaften nicht mehr pflegen kann, weil es immer anstrengender wird, die Fassade aufrechtzuerhalten, während die Kraft nur noch für das Nötigste reicht, verliert über kurz oder lang sein Selbstwertgefühl. Dieses Gefühl von Wertlosigkeit verstärkt wieder andere depressive Symptome.

Über all dem schwebt die Selbstverurteilung, „faul“ zu sein, es „einfach nicht gebacken zu kriegen“

„Sie sind krank, nicht faul!“

Wenn dann ein Arzt kommt, der demjenigen sanft vermittelt: „Sie sind nicht faul, sie sind einfach krank!“, kann das sehr erlösend sein und ad hoc zumindest die Schuldgefühle lindern. Wenn das Kind einen Namen hat, kann man einerseits manches loslassen, andererseits in die richtige Richtung aktiv werden. An die Stelle des schwer zu beschreibenden Symptomkonglomerats tritt der Name einer Krankheit, die zwar tausend Gesichter hat, aber das Problem dennoch greifbarer macht.

(Für einen freundlicheren Dialog mit Dir selbst biete ich am 19.04.2021 um 18:00 Uhr den Online-Workshop „Von der Selbstsabotage zur Selbstliebe“ an, zu dem du dich noch bis 15.04. anmelden kannst. Weitere Infos auf meiner Praxis-Website!)

Die Diagnose mag hilfreich sein – und nun kommt das große ABER: 

Schauen wir uns nun noch einmal die Liste der Symptome an. Es fällt eines auf: all das sind sehr subjektive Kriterien, die schwer oder überhaupt nicht messbar sind. Das bedeutet nicht, dass jemand nicht trotzdem furchtbar darunter leiden kann! Und so verständlich der Wunsch sein mag, die Depression möge „als Krankheit endlich ernst genommen“ werden, ist überhaupt nicht klar, ob eine Depression überhaupt eine eigenständige Krankheit ist, oder eher ein Symptom vieler verschiedener Faktoren, die im Körper nicht mehr gut zusammenspielen und letztendlich die depressiven Symptome machen.

Klar, dass bei einer Depression die Verfügbarkeit von Serotonin im Gehirn gestört ist, mag als bewiesen gelten. Schauen wir uns aber an, wie es dazu kommt, stoßen wir auf ein komplexes Ursachengeflecht, bei dem Faktoren wie die Darmgesundheit, das Verdauungssystem, Abläufe im Hormon- und Nervensystem (Nervenbotenstoffe, aber auch Nervenzellen), die Gedanken, die jemand denkt und die Gefühle, die daraus erwachsen eine Rolle spielen. Und zwischen all diesen Faktoren gibt es unzählige Querverbindungen. Insofern ist das berühmte Serotonin ein wichtiger Akteur, und dennoch einer unter vielen.

Der diagnostische Eisberg unter der Wasseroberfläche

Unter diesem Aspekt kann die Diagnose anhand der obigen Symptome sogar ein Hindernis sein, denn sie führt dazu, dass messbare Marker überhaupt nicht bestimmt werden und Therapien zu kurz greifen. In den allermeisten Fällen ist es eben nicht damit getan, mit Antidepressiva die Verfügbarkeit von Serotonin zu erhöhen. Das hohe Rückfallrisiko bei Depressionen ist kein Zufall. Dazu demnächst mehr.

Worum es eigentlich geht: Den Menschen ernster nehmen als die Krankheit

Ob man die Depression also als eigenständige Erkrankung ansieht oder als Symptom für ein viel komplexeres Geschehen im Organismus, ist diagnostisch relevant, aber für Betroffene, die gerade darunter leiden, nicht die entscheidende Frage. Auch wenn es oft heißt, die „Depression möge als Krankheit endlich ernstgenommen werden“, geht es eigentlich um etwas anderes. Es geht darum, dass sie selbst, wenn es ihnen schlecht geht, mit ihren Befindlichkeiten ernstgenommen werden, ganz gleich, ob ihre Krankheit einen Namen hat, oder nicht.