„Soviel Gesundheit kann ich mir nicht leisten!“

„Wer sich keine Zeit für seine Gesundheit nimmt, wird bald noch viel mehr Zeit für seine Krankheit brauchen.“ (Sebastian Kneipp)

Manchmal scheint es, als sei das, was viele als „das höchste Gut“ bezeichnen, nichts wert. Nicht in Geld gemessen und nicht in Zeit.

Vor einiger Zeit hatte ich ein Erlebnis, das mir seither nicht aus dem Kopf geht. Dabei geht es weniger um die Begegnung selbst, als um Fehler im System, die dadurch offensichtlich werden.

Ein älterer Herr, seit wenigen Jahren Rentner, rief mich an und wollte einen Termin vereinbaren. Ich setze an, ihm das Procedere zu erklären mit Notwendigkeitsbescheinigung, Arztbesuch, Krankenkasse. Er habe bereits eine Verordnung für eine Ernährungstherapie. Es gehe um einen beginnenden Diabetes, und die Leber- und Nierenwerte seien auch nicht in Ordnung. Seine Ärztin sei der Meinung, er müsse weniger essen. „Adipositas aufgrund übermäßiger Kalorienaufnahme“ stand denn auch ganz undiplomatisch auf dem Rezept. „Na, DAS motiviert doch“, dachte ich mir insgeheim, legt es dem Patienten doch nahe, dass das Problem mit FDH gelöst werden könnte… Soweit, so alltäglich.

Ich schaute mir also die Dokumentation der Ärzte an, ein Ernährungsprotokoll, dass er schon dabeihatte und hörte ihm sehr aufmerksam zu. Er erzählte auch von einem massiven Leistungsknick, den er gerade erlebte und ich sah, dass er anscheinend nicht zuviel, sondern nur ein sehr eingeschränktes Spektrum an Lebensmitteln zu sich nahm.

Verschiedene Umstände hatten dazu geführt, dass ich bei diesem Ersttermin davon ausging, die Kostenübernahme sei geklärt und nicht noch einmal mit ihm über die Beratungskosten sprach – was ich sonst immer tue, und was sich auch so gehört. Leider fiel das erst beim Abschied auf. „Das habe ich wohl überlesen“, meinte er. Ich bat um Entschuldigung, erklärte noch einmal ganz genau, wie das mit den Rechnungen funktioniert und beruhigte den Patienten, dass nicht zu erwarten war, dass die Krankenkasse seinen Antrag ablehnen würde. Er bat mich auch darum, ihm beim nächsten Mal genau zu erklären, welches seiner Medikamente nun was machte und ich möge ihm bloß keine Rezepte mit Karotten und Blumenkohl heraussuchen, die seien ihm zuwider. „Versprochen! Wir kriegen das auch ohne Karotten und Blumenkohl hin“, versicherte ich ihm. Wir planten einen Folgetermin zehn Tage später.

„Ich setze mich jetzt erstmal hin, schaue mir alles nochmal genauer an, und wenn Sie in zehn Tagen wieder kommen, habe ich einen Ernährungsplan für Sie und wir schauen zusammen, wie Sie wieder fitter werden können.“ – „Gut. Auf Wiedersehen!“ – „Auf Wiedersehen. Alles Gute bis dahin!“

Bei dieser Durchsicht fielen mir – im Zusammenhang mit dem, was er erzählt hatte – ein paar Dinge auf, die mich alarmierten. Ich erstellte also nicht nur den Ernährungsplan, sondern schrieb – mit seinem Einverständnis natürlich – auch einen Brief an seine Ärztin und an ihn selbst. Da das Ganze recht komplex war, hatte ich damit etwa fünf Stunden zu tun, was doch deutlich mehr ist als üblich.

Der zweite Termin kam – der Patient kam nicht. Ich wartete. Zwei Stunden später rief ich an und fragte, ob ihn etwas aufgehalten habe. „Ach, die Krankenkasse hat noch nicht geantwortet.“ – „Wir hätten den Termin ohne Weiteres verschieben können, aber es wäre gut gewesen, wenn Sie mich angerufen hätten.“ – „Ja, tut mir leid. Ich sage Bescheid, wenn ich was weiß. Aber wenn die Krankenkasse ablehnt, kann ich das nicht machen.“ – „Mhm.“ – „Ich kann auch unmöglich mehr für mein Essen bezahlen als jetzt – ich geh ja schon immer zum Discounter.“ – „Trotzdem geht da einiges. Sie müssen wegen mir nicht im Bioladen einkaufen. Besser essen muss nicht unbedingt teuer sein.“ Ich hatte das in seinem Plan bereits berücksichtigt, nachdem er mir erklärt hatte, dass sein Essensbudget begrenzt war.

Ich erklärte ihm, dass ich den ausgefallenen Termin aus Kulanz nicht in Rechnung stellen würde, er möge halt einen Termin vereinbaren, wenn er das ok der Kasse habe, zur Besprechung des Ernährungsplans. „In Ordnung.“

Den Plan legte ich in seine Akte. Als ich bis zum Ende des Folgemonats nichts gehört hatte, rief ich wieder an. „Ja, ich wollte Sie ja schon lange anrufen. Die Krankenkasse hat das bewilligt. Aber da bleiben ja noch über zweihundert Euro, die ich zahlen müsste!“ – „Ja, schon. Aber Sie hätten da wenigstens was davon, während ich Ihnen – das ist der Grund meines Anrufs – jetzt eine Rechnung stellen müsste, ohne dass Sie davon irgendetwas haben!“ – „Na, dann hab ich Sie halt gefördert. Soviel Gesundheit kann ich mir nicht leisten.“ – „Ok. Alles Gute…“

Ich bin irgendwie … verdattert, schwanke erstmal zwischen Mitgefühl und Traurigkeit. Mitgefühl, weil ich sehe, welchen Weg sein Körper eingeschlagen hat, um die völlig unpassende Ernährung zu kompensieren. Traurigkeit, weil ich erkannt hatte, dass sich das Zeitfenster, in dem sich seine Probleme noch fast völlig lösen lassen, in den nächsten Monaten schließen wird – und dass dieser Zeitraum verstreichen wird ohne diese Chance zu nutzen. Weil da ein kräftiger Mann vor mir saß, der immer sportlich war, geistig noch klar, intellektuell absolut in der Lage, das Notwendige in die Wege zu leiten um ohne Weiteres noch zwanzig Jahre lang mit Kind und Enkeln seinen Ruhestand genießen zu können, wenn … ja, wenn…

Und dann trat plötzlich Wut an die Stelle von Mitgefühl und Traurigkeit. „Soviel Gesundheit kann ich mir nicht leisten“, hatte er gesagt. Ich wußte in dem Moment nicht, worüber ich am meisten wütend war.

Auf das Rentensystem, das jemandem, der einen durchaus anspruchsvollen Beruf ausgeübt hat, im Alter nur so wenig lässt, dass eine so verhältnismäßig geringe Ausgabe unerreichbar scheint und das die Anzahl der Menschen, die Altersarmut entgegensehen, mit jedem Jahr steigen lässt.

Auf das kranke Gesundheitssystem, das Menschen zwanzig Jahre lang und länger Medikamente gegen Bluthochdruck und Diabetes finanziert, Fußamputationen und Augenbehandlungen gegen die drohende Erblindung, aber nicht die Kosten für eine Ernährungstherapie. Auf uns Beitragszahler, die den ganzen Wahnsinn jeden Monat gleich dreifach finanzieren – in Form von Geld, verlorenen Lebensjahren und Lebensqualität.

Und ich war bestürzt über die fehlende Wertschätzung für den eigenen Körper, der uns doch alle durch unser Leben trägt. Der treu für uns arbeitet und uns unterstützt und nicht auf unsere Unterstützung zählen kann. Er hat in diesem bereits überdeutlich – und völlig zu Recht – signalisiert, dass er nicht mehr kann. Dass ihm nichts mehr übrigbleibt, als mit rasanter Geschwindigkeit seinen Geist aufzugeben, wenn sich nicht sehr bald etwas Entscheidendes ändert.

Eigentlich habe ich den schönsten Beruf der Welt – aber in manchen Momenten hasse ich ihn…