Herr Bhakdi, haben Sie nicht was vergessen?

„Covid-19 ist nicht gefährlicher als eine Grippe!“ – Warum das nur die halbe Wahrheit ist

Ich habe ja durchaus einen Hang dazu, mir Dinge aus „alternativen Blickwinkeln“ anzusehen. Ich liebe es, mit Leuten zu diskutieren, die anderer Meinung sind (sonst macht’s ja keinen Spaß). Was ich aber überhaupt nicht mag: wenn mich einer vergackeiert (um hier nicht einen sehr viel drastischeren Ausdruck zu verwenden).

Es gibt tatsächlich Menschen, die noch niemanden, den sie kannten, an Covid-19 verloren haben. Gesegnet seid ihr! Und möge es so bleiben.

Anstatt sich dieses Glücks bewusst zu sein, fangen dann ein paar dieser Menschen an, „alternative Sichtweisen“ zu verbreiten, z.B. das Coronavirus sei nicht gefährlicher als eine Grippe. Und solche „Experten“ wie Sucharit Bhakdi und Wolfgang Wodarg sagen das ja auch – und die müssen es schließlich wissen. Diese „Experten“ würden aber ja nicht in Talkshows eingeladen, weil solche Aussagen nicht geeignet seien, die Corona-Angst weiterzuschüren, die man brauche, um die „neue Weltordnung“ voranzutreiben (oder welch diffuse Befürchtungen sonst noch so vorhanden sind).

Ich habe mir das neueste Video von Herrn Bhakdi angesehen, wo er sich von einem Edelmetallhändler (!) hat interviewen lassen (also einer, der mit als erstes von Krisenstimmung im Land profitiert und schon von Berufs wegen eher nicht interessiert sein dürfte, die Bevölkerung zu beruhigen). Und dieser Grundtenor durchzieht auch das gesamte Interview.

Herr Bhakdi sagt darin viel Wahres – aber meistens nur den Teil der Wahrheit, der seine Geschichte stützt. Würde er wirklich mal – entsprechend seiner Bildung und seines Berufs – die Dinge etwas genauer beleuchten, fiele seine Story nämlich zusammen wie ein Kartenhaus.

Was ist also dran, dass das Corona-Virus nicht gefährlicher sei als das Grippevirus?

Zunächst mal: das kann man erst zum Ende der Pandemie abschließend beurteilen. Insofern ist diese Behauptung zum jetzigen Zeitpunkt zumindest etwas unseriös. Manche Schätzungen gehen allerdings in die Richtung – die Behauptung ist daher möglicherweise nicht komplett falsch.

Um die Gefährlichkeit ein wenig abzuschätzen, braucht es die Anzahl Verstorbener im Verhältnis zur Anzahl der etwa 14 Tage zuvor Infizierten. Bestätigt sind heute etwa 70 Mio. Infizierte, würden wir diese Zahl nehmen und die wohl sehr hohe Dunkelziffer zu verschweigen, würden wir die Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 aber überschätzen. Und wir wollen ja keine Panik machen. Die WHO schätzte vor 2 Monaten (als die 2. Welle also noch sehr klein war) die Zahl der Infizierten auf etwa 10% der Bevölkerung, mithin 780 Mio. Fälle. Das dürften inzwischen erheblich mehr sein, aber es sind ohnehin nur Schätzwerte. Dem gegenüber stellte sie damals etwas über eine Million Todesfälle und kam damit auf eine geschätzte Infektionssterblichkeit von 0,14% – ähnlich wie bei einer „normalen“ Grippe (etwa 0,1% im Durchschnitt). Gehen wir also davon aus, dass zumindest die Größenordnung in etwa stimmt.

Also haben Bhakdi und Wodarg doch recht?

Nein! Die Faktoren nämlich, die den großen Unterschied in der Gefährlichkeit ausmachen, verschweigen diese und andere „alternative Koryphäen“ geflissentlich.

Australien betrachtet in einer Studie nur die 40-59jährigen und kommt zu einer relativ niedrigen Infektionssterblichkeit von 0,07%. In Italien und bei 50-59jährigen liegt sie schon sechsmal so hoch, in England starb bisher knapp jeder vierte infizierte Patient über 75 Jahren. In den USA zeichnet sich ab, dass – über die Breite der Bevölkerung mit der relativ hohen Adipositasprävalenz gerechnet – Ein Amerikaner mit 16 Mal so hoher Wahrscheinlichkeit an Covid-19 stirbt, als an einer Grippe. Dabei spielt allerdings auch eine Rolle, dass die Schutzmaßnahmen gegen Covid-19 in diesem Jahr auch zu deutlich weniger Grippefällen geführt haben – Masken halten eben nicht nur Corona-Viren ab. Das alles zeigt schon, wie ungenau solche Aussagen zwangsläufig sind und wieviele Unbekannte in einer solchen Formel stecken.

Optimale Behandlungsmöglichkeiten vorausgesetzt, ist das Risiko zu sterben bei Grippe und Covid-19 insgesamt und weltweit möglicherweise ähnlich. Die Gefährlichkeit liegt allerdings in der ungleich höheren Infektiosität von SARS-CoV-2, wenn man beide Epidemien ohne Maßnahmen durchlaufen ließe. Auch das hat mehrere Gründe:

1. Infektionsrate und Inkubationszeit

Die Grippe kommt schnell, wie „angeflogen“. Nach der Infektion dauert es 1-2 Tage und dann haut es einen in der Regel binnen weniger Stunden um. Das ist auch eines der typischen Zeichen, das eine Grippe von der eher langsam sich entwickelnden Erkältung unterscheidet. Man hat also nicht besonders viel Zeit, noch draußen herumzugeistern und Leute anzustecken, sondern verkriecht sich nach Möglichkeit schnell in die Höhle um sich auszukurieren. Damit ist man auch für seine Umwelt nicht mehr gefährlich.

Ganz anders beim Corona-Virus: Im Einzelfall zeigen sich erst nach 2 Wochen die ersten Symptome – irgendwann vorher beginnt schon die Infektiosität. So ist man im Normalfall noch mehrere Tage draußen unterwegs, kann eine Vielzahl an Kontakten haben und keine Ahnung, dass man längst mit Viren um sich wirft. Und selbst wenn man sich draußen durch Masken und Abstand schützt, bleiben immer noch die engen Kontakte innerhalb der Familie, die letztlich die Infektionszahlen und damit die Anzahl möglicher Überträger, nach oben treiben.

2. Exponentielles Wachstum und Grundimmunität

Welche Anstrengungen waren während der ersten Welle im Frühjahr nötig, um den R-Wert unter 1 zu bekommen! Leider ist SARS-CoV-2 so anders als andere, alte Corona-Viren, dass die anfängliche Hoffnung einer nennenswerte Hintergrund-Immunität sich erstmal nicht bestätigen ließ. Insofern muss man damit rechnen, dass der Prozentsatz der Menschen, die potentiell an Covid-19 erkranken können, sehr hoch ist, und das bestätigt auch das exponentielle Wachstum, das anfangs, vor der Maskenpflicht, zu beobachten war. Bei der Grippe ist das glücklicherweise etwas anders. Fast jeder hatte sie schon mal irgendwann, fast jeder trägt Gedächtniszellen in sich und die Grippeviren unterscheiden sich offenbar auch weniger untereinander, als die Corona-Viren, sodass eine Grundimmunität in der Bevölkerung einen exponentiellen Anstieg der Infektionen verhindert.

3. Grippeimpfung

Dazu trägt auch die Grippeimpfung bei. Sie ist alles andere als ein Kassenschlager. Nur 10% der der Bevölkerung holen sie sich pro Jahr im Durchschnitt. Allerdings liegt die Durchimpfung der besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppe bei etwa 30%. Da kann man zwar nicht von Herdenimmunität sprechen, aber trotzdem bremst das die Verbreitung des Grippevirus deutlich ab.

Quelle: Helios

Fazit:

SARS-CoV-2 ist weniger ansteckend als Masern und es ist auch nicht die Pest. Panik ist unangebracht. Aber es mit einer normalen Grippe auf eine Stufe zu stellen, ist nichts weniger als eine bewusste Täuschung verunsicherter Menschen. Die Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 und Influenza-Viren zu vergleichen, und dabei die völlig unterschiedlichen Rahmenbedingungen auszublenden ergibt einfach keinen Sinn. Das müssten eigentlich auch die Herren Bhakdi, Wodarg und Co. wissen.

Nimmt man all das zusammen, wird deutlich, warum seit den 50er Jahren keine ernsthafte Gefahr mehr bestand, dass eine „normale“ Grippewelle das Gesundheitssystem kollabieren lassen könnte. Die Befürchtung bestand zwar häufiger (Schweinegrippe, Vogelgrippe), aber es ist glücklicherweise nie passiert. Natürlich wäre es einfacher, wenn wir die Wahrscheinlichkeit für schwere Verläufe einfach auf breiter Front durch einen gesunden Lebensstil senken würden. Leider finden zu wenige diesen Gedanken attraktiv, weil mit Anstrengung und ggf. Investitionen verbunden. Und so gibt es im Moment gegen das exponentielle Wachstum keine besseren Mittel als AHA: Abstand, Hygiene, Alltagsmasken. Auch das ist scheinbar für manchen Bürger unattraktiv.  

Daraus resultiert mittlerweile in vielen Ländern eine zum Teil sehr deutliche Übersterblichkeit, die sich nur zu einem Bruchteil durch Corona-Tote erklären lässt. Kein noch so exzellentes Gesundheitssystem kann dauerhaft eine solche Situation mal eben „nebenbei“ miterledigen.

Der Tod derer, die heute z.B. früher an Krebs sterben, weil mehrfach der OP-Termin verschoben wurde, oder die nach einem Unfall zwar wieder zusammengeflickt wurden, aber dann nur notdürftig betreut werden konnten, weil die Intensivstation schon voll ist mit Covid-19-Patienten, geht auch auf das Konto von denen, die heute immer noch durch Youtube-Kanäle geistern und Desinformation betreiben oder im Bekanntenkreis Fake-News teilen und ihre Mitmenschen nach Kräften glauben machen wollen, dass Corona nur ein Schwindel sei. In dieser Reihe seien auch noch die zu nennen, die immer noch ernsthaft stolz sind, keine Maske zu tragen, weil sie ja viel cleverer sind als alle anderen und sich von einem netten Querdenker-Arzt ein Attest „besorgt“ haben für ein Asthma, das sie nie hatten.

Lassen Sie sich also nicht hinters Licht führen – und bleiben Sie gesund!