Corona: ein „minderschwerer Schluckauf“?

„A minor hiccup“ – ein „minderschwerer Schluckauf“, so nennt man im anglikanischen Sprachraum ein „Wehwehchen“. Immer noch wird diese Ansicht von manchen auch noch in Bezug auf Corona vertreten, verbunden mit der – vielleicht berechtigten – Angst, die Demokratie würde unter den Eindämmungsmaßnahmen leiden und die Wirtschaft vollends in die Knie gehen. Klar, das wollen wir alle nicht. Beleuchten wir deshalb doch die Argumente der Gegner staatlicher Maßnahmen:

Schweden – das leuchtende Vorbild?

„In Schweden, da gibt’s die ganzen Maßnahmen nicht – und trotzdem funktioniert das dort irgendwie!“ Neidvoll guckten manche Deutsche noch in den ersten Apriltagen gen Norden. Ja, stimmt. Was auch immer man unter „funktionieren“ versteht. „Wir vertrauen einander, wir brauchen keinen Shutdown“, ließ eine junge Schwedin vor ein paar Wochen verlauten und stellte sich damit hinter die Nicht-Maßnahmen ihrer Regierung. Viele Schweden teilen diese Meinung – insofern mag der eingeschlagene Weg vielleicht sogar der richtige sein – für Schweden!

Ein einem Land, das etwa 25% mehr Fläche hat als Deutschland, in dem aber nur etwa 10 Millionen Menschen wohnen, ist Social Distancing auch ohne Corona für einen Großteil der Schweden alltägliche Realität. Unter solchen Voraussetzungen hat die Idee der Herdenimmunität (siehe unten) natürlich einen besonderen Charme, weil die Wahrscheinlichkeit einer exponentiellen Verbreitung geringer ist. Eltern, die in Schweden aus Angst (oder weil sie kranke Familienangehörige haben) ihre Kinder aus der Schule nehmen, tun dies auf eigene Verantwortung. Die Kinder bleiben nicht kollektiv zu Hause und werden virtuell unterrichtet, sondern sie verpassen einfach, was ihre Klassenkameraden in der Schule lernen. Das gilt zumindest für Grundschulkinder – der Unterricht für höhere Klassen findet teilweise virtuell statt.

Aber nicht alle Schweden leben allein auf weiter Flur in einem ochsenblutroten Häuschen mit weißen Fensterrahmen irgendwo im Nirgendwo! Und so durchdringt Corona nun auch die wenigen Ballungsräume, allen voran natürlich den Großraum Stockholm.

Bisher (Stand 19.04.2020) sind in Schweden 1540 Menschen an Covid-19 gestorben. Legt man eine durchschnittliche Krankheitsdauer von 10 Tagen zugrunde und damit die Infiziertenzahl vom 09. April (9141 bestätigte Fälle), so ergibt sich eine geschätzte Sterblichkeit von über 16% (aber Vorsicht! Wie bereits im vorigen Artikel beschrieben, kann man verlässliche Zahlen erst NACH der Pandemie liefern! Man beachte allerdings die Größenordnung!). Rechnen wir doch mal hoch, was das für Deutschland bedeuten würde. Und dann überlegen wir uns nochmal, ob wir das wirklich wollen!

„Corona? Das ist einfach ein mutiertes Erkältungsvirus. SARS war viel tödlicher!“

Stimmt. Wer sich vor ein paar Jahren mit SARS infizierte, der wußte, dass seine Wahrscheinlichkeit zu sterben erheblich höher lag, als bei einem, der sich heute mit Corona infiziert. Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Das fiese, alte SARS-Virus vermehrte sich erst in der Lunge – und das sehr viel seltener tödliche SARS-Cov-2 (also das aktuelle „Corona“) schon im Rachen. Der Übertragungsweg von Rachen zu Rachen ist viel kürzer als von Lunge zu Lunge, damit ist eine Ansteckung sehr viel wahrscheinlicher, auch wenn der Prozentsatz der schweren Verläufe geringer ist. Die geringere Letalität wird also durch die höhere Ansteckungsgefahr mehr als ausgeglichen. Beim alten SARS-Virus wäre der Gedanke an eine Herdenimmunität noch absurder gewesen als er es heute ist.

Die zynische Forderung nach Herdenimmunität

Wie oft hat man das gehört, nicht nur aus dem Ausland, sondern auch bei uns: „Wir brauchen eine Herdenimmunität – wir sollten das Virus nicht bekämpfen, je schneller es einmal durch die Bevölkerung durch ist, desto eher können wir zur Normalität zurückkehren!“

Wir wussten von Anfang an, dass es zwar keine Versicherung gegen schwere Verläufe gibt, dass diese aber selten sind, während der Großteil der Corona-Erkrankten nicht mehr leidet, als unter einer Grippe – mitunter sogar gar keine Symptome zeigt. Warum also nicht genau darauf setzen?

Man hätte bei bestehender Herdenimmunität keinen Druck mehr, eine gute Impfung zu entwickeln, neue Medikamente zu erforschen, hätte vermeintlich das ganze Thema bald ad acta gelegt, ach ja – und Platz in den Seniorenheimen gäbe es dann auch wieder! Man merkt also sehr schnell, wie zynisch diese Forderung nach „Herdenimmunität“ in Wahrheit ist.

Herdenimmunität in Deutschland heißt, dass 60-70% der Menschen sich infiziert haben und dadurch für’s erste immun geworden sind (bis zur nächsten Mutation – wobei völlig unklar ist, wie mutationsfreudig SARS-Cov-2 ist). Bei 65% sind das also 52.000.000 Menschen. Im Moment, wo das Gesundheitssystem gut Schritt hält mit der Zahl der aktuell Erkrankten und man auch schwer Betroffene oft erfolgreich behandeln kann, beträgt die geschätzte Sterblichkeit etwa 3%. Das bedeutet etwa 1,5 Millionen Tote – wenn wir ohne Impfung und ohne weitere Gesundheitsmaßnahmen aber im aktuellen Tempo durch die Krise steuern. Zum Vergleich: In den USA, wo man, trotz der Vielzahl an gefährdeten Ballungsräumen, das Problem zunächst aussitzen wollte, sind von denen, die vor 10 Tagen nachweislich infiziert waren, bisher 8,7 % verstorben. Zur Erinnerung: Wir reden nicht von „Fällen“, sondern von Menschen.

Ja, wir brauchen eine Herdenimmunität. Aber wir werden sie – hoffentlich – durch eine möglichst gute und sichere Impfung erreichen, vielleicht irgendwann im nächsten Jahr. Und so Gott will, zieht ein ausreichend großer Teil der Bevölkerung so mit, dass es unterwegs keine Zwischenstation gibt, bei der Ärzte „triagieren“, also über die Auswahl der Patienten für Beatmungsplätze und damit über Leben oder Tod entscheiden müssen. Niemand sollte in so eine Situation kommen!

Also doch lieber Panik?

Nein! Aber auch keine Verharmlosung mit allzu billigen Argumenten. Corona ist eben nicht wirtschaftsfreundlich – egal wie man es dreht und wendet.

„Vielleicht gibt es viel mehr unbemerkte Infektionen als wir denken – vielleicht sind ganz viele von uns ja schon immun und wissen es nicht!“

Eine berechtigte Hoffnung. Nicht jeder, der positiv auf Corona getestet wurde (z.B. innerhalb von Familien mit einem Erkrankten) erkrankt selbst. Dazu braucht es verlässliche Antikörpertests und flächendeckende Studien dazu. Liegt ein guter (valider) Test mit einer akzeptabel niedrigen Fehlerquote vor, lassen sich diese Studien binnen weniger Wochen erstellen. Eine allererste Antikörper-Studie hat Prof. Streeck ins Heinsberg begonnen.

„Es gibt ja keine Angaben darüber, wie viele Menschen jetzt eigentlich AN Corona gestorben sind. Viele waren doch schon vorher krank und sind nur MIT Corona gestorben.“

Nein, ein depressiver Mensch, der positiv auf Corona getestet wurde und sich deshalb verzweifelt aus dem Fenster stürzt, ist KEIN Corona-Toter.

Wer nun in einem Anflug von schwarzem Humor an dieser Stelle lachen muss – ja, das hätte ich auch beinahe getan. Dieses Argument wird, auch von renommierten Menschen mit Doktortitel, gerade angesichts des relativ hohen Durchschnittsalters der Toten (82 Jahre in Deutschland) vielfach hergenommen um zu untermauern, dass wir alle kollektiv hinters Licht geführt würden.

Bei fitten Senioren mit „altersüblichen“ Vorerkrankungen, die an Covid-19 erkranken und sterben, sollte man davon ausgehen dürfen, dass das Virus den Tod herbeigeführt hat, weil das Immunsystem anderswo beschäftigt war und dem Erreger nicht genug entgegenzusetzen hatte, während weit verbreitete Vorerkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes oder Herzinsuffizienz nicht unmittelbar tödlich sind und oft jahrzehntelang „gemanagt“ werden. Endet dieses Leben nun plötzlich und unerwartet nach einer Corona-Diagnose und mit respiratorischen Symptomen, dann ist die Wahrscheinlichkeit doch recht hoch, dass die Ursache für den Tod Covid-19 war. Liebe Verschwörungstheoretiker: Auch das Leben eines 82jährigen Diabetikers mit Bluthochdruck ist schützenswert!

In der folgenden retrospektiven Studie aus Wuhan wird übrigens versucht, genau diese Frage (an/mit Covid-19 verstorben?) zu beantworten:

http://www.thelancet-press.com/embargo/coronavirusriskfactors.pdf

Wer nun mal wieder das wohlige Gefühl von innerer Ruhe erleben möchte, dem sei dieser Artikel von Thomas Fischer aus dem Spiegel wärmstens empfohlen:

https://www.spiegel.de/panorama/justiz/corona-niedriger-haengen-kolumne-a-896d0114-d6a2-4730-b059-a4e2f446ba2c

In diesem Sinne: behalten Sie einen kühlen Kopf und bleiben Sie gesund!