Corona: Warum ist die Sterblichkeit in Deutschland so gering?
Da sei erstmal eine Gegenfrage erlaubt: Ist sie das? Über die tatsächliche Sterblichkeit werden wir nämlich erst nach der Pandemie seriös Auskunft geben können – eigentlich sogar erst dann, wenn alle Deutschen mit einem wirklich guten, validen Test auf Antikörper untersucht wurden. Dann könnte man die Anzahl der an/mit (das leidige Thema!) Covid-19 Verstorbenen ins Verhältnis zu den Menschen mit Immunität setzen und hätte damit die Mortalität, d.h. ob 0,5% der Infizierten sterben, oder 10%.
Was man aus Statistiken ablesen kann – und was nicht
Wichtig ist: Die Zahl der aktuell Infizierten spiegelt NICHT die Realität wider (das hat auch niemand behauptet, auch kein Robert-Koch-Institut), sondern nur die positiv Getesteten. Damit beziehen sich auch alle Zahlen, die daraus abgeleitet werden immer nur auf die Menschen, bei denen das Virus tatsächlich nachgewiesen wurde, nicht auf die, die „unter dem Radar“ die Krankheit durchgemacht haben.
Je mehr Tests, desto weniger „heimlich Kranke“
Zunächst mal sieht die Sterblichkeit in Deutschland geringer aus als in vielen anderen Ländern, weil hierzulande vergleichsweise viele Menschen getestet wurden. Jeder Test mit positivem Ergebnis holt eine Person aus der Dunkelziffer in die offizielle Statistik. Je mehr Erkrankte dort erfasst sind, desto geringer wird im Verhältnis zunächst die Todesrate aussehen.
Je höher umgekehrt die Dunkelziffer, desto stärker und unberechenbarer kann später der Anstieg der Todesfälle sein. Das hat zwei Gründe:
1. Es gibt Menschen, die beim Auftreten von Symptomen gar nicht so genau wissen möchten, ob sie nun „Corona“ haben oder eine banale Erkältung, und die auch keine amtlich angeordnete Quarantäne riskieren möchten. Wenn so jemand zu Hause still vor sich hin hustet und vielleicht mit seiner „Erkältung“ doch mal spazieren oder einkaufen geht, steckt er mit höherer Wahrscheinlichkeit Menschen an, als einer, der zu Hause brav seine Quarantäne absitzt.
2. Weil es ja unter den nicht erfassten Infizierten mit einer ähnlichen Wahrscheinlichkeit zu schweren Verläufen (ca. 5%) kommt, wie unter den erfassten. Je mehr nicht erfasste, die erst in dem Moment in der Statistik auftauchen, wo die Krankheit ungünstig verläuft, desto höher auch später der Anstieg der Sterberate.
Ein Wort zur Berechnung der Sterblichkeit
Nein, sie errechnet sich nicht aus dem Verhältnis der bisher Verstorbenen zu den bisher Infizierten. Um ein realistischeres Ergebnis zu haben, muss man die Infiziertenzahl vor etwa 8-10 Tagen heranziehen – denn jeder, der an Covid-19 stirbt, war vorher erstmal ein paar Tage krank…diese Genauigkeit ist ganz besonders dann wichtig, solange das Virus sich noch exponentiell verbreitet. Trotzdem sind und bleiben diese Berechnungen ungenau.
Sterben die Menschen in Italien nun an Corona – oder an Krankenhauskeimen?
Ja, auch diese Frage wurde gestellt. Es ist nicht auszuschließen, dass Menschen mit/wegen Corona ins Krankenhaus kommen, sich dort zusätzlich mit irgendeinem Krankenhauskeim („nosokomiale Infektion“) infizieren und dann an einem von beiden sterben.
Es steht uns nicht zu, Vermutungen über die Sauberkeit italienischer Krankenhäuser anzustellen. Dass die Sparpolitik nach der Finanzkrise in den betroffenen Ländern sie zumindest nicht verbessert haben dürfte, muss man nicht diskutieren. Aber – mit Verlaub – ein Problem mit nosokomialen Infektionen gibt es in Deutschland auch, und nicht erst seit gestern. Trotzdem zeichnet sich eine wesentlich geringere Sterblichkeit ab.
Die Niederlande hingegen haben über Jahre hinweg ein vorbildliches Krankenhaushygiene-Management etabliert. Trotzdem ist dort die Covid-19-Sterblichkeit sehr viel höher.
Das allein kann es also nicht sein. Was aber ganz sicher eine Rolle spielt: Die Kapazitäten an Intensivbetten und Beatmungsplätzen. Das vorausschauende Freihalten von Betten für einen möglichen Anstieg an Erkrankten hat dazu geführt, dass auch die schwere Krankheitsfälle die bestmögliche Versorgung erfahren und die Menschen zu einem hohen Prozentsatz wieder gesund werden.
In den Niederlanden ist die Philosophie eine andere. Man bemüht sich dort um Lebensqualität für Senioren, während lebensverlängernde Maßnahmen insgesamt weniger hoch im Kurs stehen als bei uns. Dadurch sind im Gesundheitssystem schon viel weniger Intensivbetten eingeplant. Ich will dies in keiner Weise bewerten oder beurteilen. Was aber genau diese aktuelle Situation betrifft, ist das deutsche Gesundheitssystem im Vorteil.
Der unterschätzte Faktor Zeit
Italien war das erste schwer betroffene Land in Europa und hatte zu dem Zeitpunkt wenig Information. Der Nachrichtenfluss aus China war unpräzise, teilweise verharmlosend, teilweise dramatisierend (je nachdem, wer gerade Bericht erstattete), von China zu lernen war insofern quasi unmöglich. Als das Virus Norditalien als erstes traf, konnte, in Ermangelung eines Masterplans, nur versucht werden, auf Sicht zu fahren und dabei möglichst die richtigen Entscheidungen im richtigen Moment zu treffen. Und das zu einem Zeitpunkt wo über das Virus nur sehr wenig bekannt war und man keine Wahl hatte, als von vielen unbestätigten Annahmen auszugehen.
Anders als Italien von China konnte Deutschland von Italien lernen. Wir hatten das Glück, im Pandemieverlauf etwa 2 Wochen hinterher zu sein. So konnte man immer sehen, was funktionierte und was nicht, und sich überlegen, wie man einen Shutdown „light“ gestalten kann, sodass er für die Menschen erträglich bleibt. Und man bekam auch eine Idee, was passiert, wenn man eine Maßnahme nur ein paar Tage zu spät trifft. Die luxuriöse Situation, aus Haushaltsüberschüssen und neuen Schulden zum „Nulltarif“ ein Soforthilfeprogramm für gefährdete Firmen und vom Shutdown betroffene Selbständige und Kleinunternehmer aufzulegen ist ebenfalls ein Glück, das viele Staaten auf der Welt nicht haben. Natürlich ist es kein Vergnügen als Soloselbständiger oder Künstler mit coronabedingtem Arbeitsverbot jetzt „Hartz IV light“ zu beantragen – aber es steht auch jedem frei, es sein zu lassen. Verglichen mit amerikanischen Verhältnissen ist das ein Luxusproblem.
Junge Infizierte
Das Glück im Unglück, dass wir in Deutschland hatten war auch, dass ein Großteil der früh Infizierten relativ junge, aktive Skiurlauber mit wenig Vorerkrankungen waren, anstatt dass das Virus auf eine verhältnismäßig alte Durchschnittsbevölkerung traf, wie es in Italien der Fall war. Bis es sich weiter in der Bevölkerung und auch mehr unter den gefährdeten Senioren verbreitet hatte, vergingen zumindest einige Tage – in denen Ärzte, Pflegepersonal und auch politisch Verantwortliche lernen und Erfahrungen sammeln/austauschen und den Sinn oder Unsinn von Maßnahmen abwägen konnten.
Warum wurde nicht schneller gehandelt?
Zu Anfang der Pandemie, am Tag vor dem Shutdown der Restaurants, meinte ein Kellner in einem Restaurant zu mir: „Ich bin enttäuscht davon, wie das hier in Deutschland gemanagt wird. Wir sehen in Italien, wie schlimm das ist, hier müßte man auch einfach anordnen: Alles zu – und fertig. Umso schneller ist es wieder vorbei!“
Ja, hätte man machen können. Allerdings: Deutschland ist – genau wie Italien – eine Demokratie. Und mal Hand auf’s Herz: Was hätten Sie – ja, sie ganz persönlich! – gesagt, wenn bei 100 Erkrankten im Großraum München und ein paar verhinderten Karnevalisten in Heinsberg deutschlandweit die KiTas, Schulen, Geschäfte und Restaurants geschlossen worden wären? Mit allen jetzt ersichtlichen Konsequenzen, aber ohne die Dringlichkeit vor Augen? In einer Demokratie kann mittelfristig nur beschlossen werden, was von einer Mehrheit der Bevölkerung als sinnvoll erachtet und deshalb unterstützt wird. Und für eine Mehrheit der Bundesbürger wäre der Sinn solch drastischer Maßnahmen zu einem früheren Zeitpunkt nicht ersichtlich gewesen – und mit Sicherheit vehement abgelehnt worden.
Vielleicht kann man also auch als „kritischer Geist“ den Verantwortlichen hierzulande einfach mal zugutehalten, dass sie – unter Verwendung der zu dem Zeitpunkt verfügbaren Informationen – manches richtig gemacht haben… auch wenn’s schwerfällt!